Der Flügelflagel gaustert /
durchs Wiruwaruwolz, /
die rote Fingur plaustert, /
und grausig gutzt der Golz.
Langsamer träumen! denke ich und sehe /
mich nach Deckung um
Wenn Sie ein Gedicht lesen,
dann lesen Sie es am besten so,
sehen Sie, so.
Selbstverständlich können Sie
es auch anders lesen.
Lyrik Kabinett Bd.7
Andreas B. Kilcher
Im fortschrittsoptimistischen 19. Jahrhundert, von der Aufklärung bis hin zur zionistischen Erneuerungsbewegung um 1900, wurde der Weimarer Klassiker Friedrich Schiller zur Leitfigur der jüdischen Moderne. Er wurde dies nicht nur für die deutschen, sondern auch für die osteuropäischen Juden, für die Juden im Shtetl von Ungarn über Galizien bis Rußland. Dieses außerordentliche (allerdings seit 1933 weitgehend vergessene) kulturelle Phänomen betonte und erklärte der liberale Rabbiner Meyer Kayserling anläßlich von Schillers 100. Geburtstag 1905 so: „Schiller in seinen schmerzlichen Erregungen, in seinen Leiden und Kämpfen, in seinem Sterben und Erlöschen wurde Fleisch von unserm Fleische, Blut von unserm Blute!“
Das hier anzuzeigende Buch des Tübinger Literaturwissenschaftlers Andreas Kilcher analysiert diese außerordentliche Bedeutung Schillers für die jüdische Moderne nicht nur in ihren allgemeinen, kulturellen und literarischen Formationen. Er zeigt diese auch an einem signifikanten Beispiel auf: an den jiddischen und (vor allem) hebräischen Übersetzungen der Ode An die Freude. Mit ihrer hymnischen Beschwörung von kosmopolitischer Menschheitsverbrüderung und universaler Lebensfreude erhielt sie eine symptomatische Bedeutung für die jüdische Moderne: Zwischen 1817 und 1912 wurde sie nicht weniger als fünfmal ins Hebräische übersetzt. In der Publikation (im Anschluß an den monographischen Teil) werden diese eindrucksvollen Übersetzungen erstmals ediert sowie ins Deutsche zurückübersetzt, um so ihre interkulturelle Arbeit sichtbar zu machen.
An diesem konkreten Beispiel sowie am allgemeinen Phänomen der jüdischen Schiller-Rezeption läßt sich die kulturelle Dynamik der jüdischen Moderne überhaupt erkennen. Sie war anfänglich von dem kaum zu erschütternden Optimismus getragen, daß jene Bildung, Freiheit und Menschheitsverbrüderung, die Schiller beschwor, tatsächlich umsetzbar sei. Zu dieser Dynamik gehört jedoch auch, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts, erst recht angesichts der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, Zweifel am Projekt einer deutsch-jüdischen Kultur auftraten, die dieses als begrenzt, schließlich als gescheitert erfahren ließen.
Der Autor: ANDREAS B. KILCHER ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Er ist gegenwärtig einer der besten Kenner der deutsch-jüdischen Literatur. Buchpublikationen: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, Stuttgart: Metzler 1998; mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München: Fink 2003. – Als Herausgeber: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart: Metzler 2000, erneut Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003; Anton Kuh, Juden und Deutsche, Wien: Löcker 2003; Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, Stuttgart: Metzler 2003; Deutsch-jüdische Literatur, Stuttgart: Metzler 2006.
Blue Books
In unregelmäßiger Folge veröffentlichen wir in dieser Reihe Publikationen, die sich häufig aus unseren Lesungen ergeben haben oder die zu besonderen Anlässen erscheinen. Die Buchumschläge sind in verschiedenen Blautönen gehalten. Die Auflagen sind limitiert.