Der Flügelflagel gaustert /
durchs Wiruwaruwolz, /
die rote Fingur plaustert, /
und grausig gutzt der Golz.
Langsamer träumen! denke ich und sehe /
mich nach Deckung um
Aber vielleicht ist auch Gott, wie die Vernunft, /
nur für wenige.
Münchner Reden 1
Ernst Osterkamp
Nicht als heiles Gegenbild zur eigenen Gegenwart hat Friedrich Schiller die antike Welt verstanden, sondern als einen komplexen Stoffzusammenhang, den er zeit seines Lebens und Denkens in immer neuen Varianten einsetzt, um ihn für sein poetisches Werk fruchtbar zu machen: Zunächst noch ganz im Zeichen der zeitgenössischen Gräcomanie als bewunderter Ausdruck des intakten Menschen vor den Gipsfiguren des Mannheimer Antikensaals, dann als Spiegel der Seelenlage in Liedern innerhalb der >Räuber<, schließlich als Huldigung an die antike Götterwelt in Balladen und Gedichten, als Beginn eines neuen Historismus nach der Entdeckung der unterirdischen und so beängstigend komplett erhaltenen Welt von Herculaneum und Pompeji.
Ernst Osterkamp schildert die Bedeutung der Antike als Experimentierfeld moderner Zerrissenheit für Schiller zugleich in der bewußten Beschränkung auf die Lyrik des Dichters: »nichts charakterisiert Schillers beste Gedichte so sehr wie die Einheit von Philosophie und Poesie, von Reflexion und Einbildungskraft, von seelischer Empfänglichkeit und energischer Gestaltung.« Denn das Bild der »herrlichen Menschheit« der Griechen ist auf erstaunliche Weise mit Schillers Versuch einer Bestimmung der lyrischen Dichtkunst identisch; nur das Gedicht stelle im Medium des ästhetischen Scheins wieder her, was einst antike Wirklichkeit gewesen sei: den ganzen Menschen, der universaler Zersplitterung in der Moderne zum Opfer gefallen ist. Eine Antwort also auf die Frage »Schöne Welt, wo bist du?«, fern von der rhetorischen Übersteigerung Griechenlands zum Utopia absoluter Götterschönheit. Trotz der häufigen Wiederkehr antiker Themen (und Formen) in Schillers Lyrik – von Hektors Abschied von Andromache, bis Kassandra oder Das Siegesfest – ist es, »als blicke in diesen Gedichten ein fragmentiertes, von Widersprüchen zerrissenes modernes Bewußtsein in die Antike zurück wie in einen Spiegel, aus dem ihm die eigenen verzerrten Züge in heroisch gesteigerter Gestalt entgegentreten«.
Am Ende steht die desillusionierende Einsicht, daß anstelle der erhofften Renaissance und universaler Lebenserneuerung nur noch archäologische Sensation und Rekonstruktion bleiben werden. Was sich angesichts der historischen Erfahrungen von Schillers Generation nun öffnet, ist der Abgrund des Historismus, und was aus ihm emporsteigt, sind antike Stoffe und Materialien, die durch Kombination von Stilzitaten historische Legitimation zu verschaffen suchen.
Ernst Osterkamp (geb. 1950) ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1999/2000 war er Getty Scholar am Getty Research Institute in Los Angeles, 2003/04 Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche Literatur der Frühaufklärung, Klassik und die der klassischen Moderne sowie die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten. Daneben schreibt er Literaturkritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Seit 1995 ist er Mitherausgeber der Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, seit 1999 Mitherausgeber des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft.
Münchner Reden zur Poesie
Die Reihe widmet sich poetologischen Fragen und dokumentiert zugleich die Bedeutung, die der Dichtung in verschiedenen Bereichen der Gegenwartskultur zukommt. Die Reden werden ein- bis zweimal jährlich gehalten. Sie wurden begründet von Ursula Haeusgen und Frieder von Ammon und werden herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon.