Der Flügelflagel gaustert /
durchs Wiruwaruwolz, /
die rote Fingur plaustert, /
und grausig gutzt der Golz.
Die Lyrik-Empfehlungen des Jahres 2017
Kate Tempest:
Hold Your Own. Englisch / deutsch. Aus dem Englischen von Johanna Wange. Suhrkamp 2016.
Hold Your Own ist eine körperliche, gegen die Festschreibungen des eigenes Körpers revoltierende Geschichte des Sehers Teiresias: Von den Göttern dazu verurteilt, sieben Jahre als Frau zu leben, später vor ein Göttergericht gezerrt,um darüber zu entscheiden, ob Männer oder Frauen die größere geschlechtliche Lust empfinden, für seine Entscheidung ein weiteres Mal gestraft und mit Blindheit geschlagen. Hold Your Own, das sind Gedichte der 1985 geborenen Britin Kate Tempest, deren große Musik-Alben und Spoken-Word-Auftritte in den letzten Jahren Dichtung immer wieder hautnah und körperlich erfahrbar machten. Hold Your Own, das heißt in Johanna Wanges sehr angemessen geradliniger Übersetzung einmal schlicht: "Sich zu behaupten". Behauptet werden in diesem Band in immer neuen Bildern und Verwandlungen im Wortsinn diverse Entwürfe von Körperlichkeit und selbstbestimmtem Leben.Die Bilder strömen von einem blinden Seher aus, sie zeigen lauter Unmöglichkeiten, die man früher Utopien genannt hätte. Die deutsche Übersetzung entrückt und entkörperlicht die Verse stärker als Tempests raues Englisch, sie ringt aber ebenso heftig und wahrhaft politisch um nicht weniger als das gute Leben. (Florian Kessler)
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki:
Tumor linguae. Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay und Uljana Wolf. Edition Korrespondenzen 2015.
»Ich habe mit dem Tod geredet, und er hat mir versichert, es gebe weiter nichts als ihn.« Dieser Satz Jean Pauls kommt einem in den Sinn, wenn man sich den düsteren, die Schmerzzonen des Lebens ausleuchtenden Gedichten des polnischen Lyrikers Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki widmet. »Tumor linguae«, die Wucherung der Sprache, sie führt ins Elementare, zum Kern unserer Existenz, wo alle Illusionen zerfallen sind und wir in das Kraftfeld des Todes geraten. Diese Gedichte sprechen von den Versehrungen des Körpers und der Seele – und verbinden sich dennoch zu einem ergreifenden Gesang des Lebens: »schizophrenie ist ein haus / gottes seit ich erkrankte / vielfach und erwachte / im fieber der liebe«. Die »Lieder aus Notwehr« beschwören in der Art einer Litanei die Krankheit der Mutter, den Krebstod des Lebensgefährten, sie locken uns an Orte, wo der Schrecken wohnt. Für die Liedhaftigkeit dieser todessüchtigen Verse haben Michael Zgodzay und Uljana Wolf in ihrer Übersetzung überzeugende Lösungen gefunden. (Michael Braun)
Rosmarie Waldrop:
Ins Abstrakte treiben. Amerikanisch / deutsch. Aus dem Amerikanischen von Elfriede Czurda und Geoff Howes. Edition Korrespondenzen 2015.
Brauche ich Beine, um Emily Dickinson zu schätzen? Die Antwort, die Rosmarie Waldrop in ihrem essayistischen Langedicht mit dem Titel Ins Abstrakte treiben gibt, ist: ja. Denn um etwas zu wissen, muss der Körper einen Pakt geschlossen haben mit der physischen Welt. »Geistkörperlich intakt«. Da sind die Beine Stellvertreter in Bewegung. In einer so lockeren wie folgerichtigen Weise angeordnet, zeichnet Waldrop die Kontur des Gedankens, der in diesem Moment erst entsteht – klar, diskret, erstaunlich. Als würde sie alle Register der Abstraktion körperlich durchqueren und gedanklich zusammenheften. Was immer sie vorfindet und anspielt, ist aus Höflichkeit gegenüber den Leserinnen und Lesern auf den Gedanken reduziert, auf das Schönste und Klügste, und dennoch semantisch, aber auch in der Textbewegung, der Rhythmik und Komposition verkörpert. Und die Übersetzung macht das mit! Das muss einem erstmal gelingen. »Und glänzt blau wie ein Demonstrativpronomen.« (Monika Rinck)
William Wordsworth:
Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge (The 1805 Prelude). Herausgegeben, aus dem Englischen übersetztund mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schlüter. Matthes & Seitz 2015.
Einer der zentralen Texte der englischen Romantik hat 165 Jahre nach der Erstveröffentlichung den Weg zu uns gefunden:William Wordsworths autobiografisches Langpoem The 1805 Prelude, das der Dichter seinem Freund und Reisegefährten Samuel Taylor Coleridge widmete und das nach seinem Tod im Jahr 1850 in einer stark überarbeiteten Version erschien. Die erst 1926 publizierte, widerständigere Urfassung hat Wolfgang Schlüter, für seine eigenwilligen Übersetzungsstrategien bekannt, nun dem deutschen Publikum zugänglich gemacht - in einer literarischen 'Übertragung',deren Prinzipien er im Nachwort offenlegt und damit zur Diskussion stellt. Stilistisch zwischen genuin romantischem Ton, verspielter Patina und unbekümmerten Modernismen changierend, hat Schlüter das bildreiche, stimmungsvolle und gelehrsame Werk in die Gegenwart gerettet und dabei dem ehrwürdigen Blankvers zu neuer,ungeahnter Lebendigkeit verholfen. (Kristina Maidt-Zinke)
Jeffrey Yang:
Yennecott. Englisch / deutsch. Aus dem Amerikanischen von Beatrice Faßbender. Berenberg 2015.
»Yennecott / nannten die Corchaug / diesen Ort«. Jeffrey Yang ergründet in der amerikanischen Tradition des Langgedichts die Geschichte eines Gebietes auf Long Island, das zunächst nur als Name existiert: Yennecott, Bezeichnung der indianischen Bewohner, mit ihnen ausgerottet. Hier kommt der Sprechende mit den wohlhabenden Erholungssuchenden an: Ferien, freie Zeit, Lockerung, Öffnung der Wahrnehmung; verschlungene Pfade durch dickes Grün locken jenseits des akkurat gemähten Rasens hinter der Blockhütte. Und das Meer: »Eben noch im Binnenland / mit einem Mal von Meer / umgeben / Licht // lockt /Vergangenes hervor am / Vergessen vorbei«. Plötzlich beginnt der Ort vor Geschichte zu vibrieren: Ein Strom von Informationen ergießt sich über den Suchenden. Yang montiert historische Zeugnisse, Impressionen, Erinnerungen, Dichterworte zu einer suggestiven, episch schweifenden, alternativen Geschichtsschreibung. Alternativ durch die poetische Kraft der Vergegenwärtigung des Ungleichzeitigen, eine Gegenerzählung vom amerikanischen Traum und Trauma. Er reiht, bricht, rhythmisiert, überblendet, schneidet seine Quellen gegeneinander, bringt sie gemeinsam zum Klingen. Ein radikales, eigenwilliges poetisches Verfahren zum Staunen – in der schönen zweisprachigen, von Beatrice Faßbender besorgten Ausgabe. (Holger Pils)